Gratwanderung

Ein Text von Julia Meyer-Brehm

Feine Spitzendessous umhüllen den wuchtigen Marmorblock, der aus einzelnen Platten besteht und an eine dicke Matratze erinnert, wie eine textile Haut. Einst haben die zartglänzenden Negligés den Zweck erfüllt, menschliche Körper zu umspielen und ihnen eine erotische Ausstrahlung zu verleihen. Nun wurden sie von Marie Madlen Weber zerteilt, zu einer Art Quilt zusammengefügt und sind Teil der Skulptur „warm gehalten“ (2019). Wie der Name des Werkes vermuten lässt, haben die Wäschestücke jetzt eine ganz neue Funktion: das Spenden von Wärme.
Die Arbeit verdeutlicht gleich mehrere Ebenen, die in den Werken der Künstlerin eine wiederkehrende Rolle spielen: Auf der einen Seite die Transformation, das Zerlegen und wieder Zusammenfügen von Teilen zu neuen, überraschenden Formen. Ein weiterer Punkt ist das Material: Durch das Spiel mit den Eigenheiten der Substanzen hinterfragt Weber vermeintlich Gegebenes. Ihre humoristischen, punktgenauen Werktitel sind nur ein Indiz für dieses Vorgehen.
Auch der Prozess ist ein wichtiger Faktor in ihren Arbeiten. Und schließlich ist da die unübersehbare Spur, die sich in Abdrücken und Einschnitten nicht nur physisch bemerkbar macht, sondern auch als Gedanke im Gedächtnis der Betrachter:innen zurückbleibt. Auf all diese wesentlichen Elemente wird im Folgenden ein dezidierter Blick geworfen, der die vielschichtige Arbeitsweise der Künstlerin anhand einiger Werkbeispiele verdeutlicht.

Das Spiel mit dem Material, das sich in „warm gehalten“ deutlich zeigt, wird durch den Kniff eines ironischen Titels noch ergänzt. Selbst als vielschichtige Decke kann der dünne Spitzenstoff niemanden wärmen, schon gar keinen Steinblock. Ebenso wenig kann eine schwere Marmorplatte „gehalten“ werden. Was auf den ersten Blick humoristisch wirkt, besitzt auch eine ernste Komponente: Instinktiv assoziiert man das Leben auf der Straße, die Suche nach Wärme und das Einsetzen von sexuellen Reizen um Nähe und Verbundenheit zu erzeugen. Hier zeigt sich das charakteristische Wechselspiel aus Emotionalität und Material, das in Marie Madlen Webers konzeptuellen Arbeiten immer wieder durchscheint.
Die Künstlerin nutzt das Material Stein regelmäßig, etwa in ihrer Arbeit „Annäherung 1“ (2021): Hier wird eine Seite der Skulptur durch die Natur, den Fluss, geformt. Die andere Seite wird als Negativform bearbeitet. Auf diese Weise ergibt sich ein symbiotisches Zusammenspiel zweier Kräfte, das suggeriert, der Stein sei weich und formbar. In der zweiteiligen Arbeit „Hitzewallung“ (2021) erweckt der geschmolzene Rand den Eindruck, der Stein habe sich unter Einfluss von Hitze zu verformen begonnen. Ebenso überraschend wirkt „Ein Stein“ (2020), ein Kreis aus einem zerschlagenen Stein. Am Rand dieses Gebildes ist abermals eine zarte Schmelzspur zu erkennen, die die Weichheit und Formbarkeit eines Materials andeutet. Neben der spannenden Gleichzeitigkeit von Ganzheit, Zerteilen und erneutem Zusammenfügen, ist das Werk auch geprägt vom Kontrast zu der vermeintlichen Härte und Stabilität des Gesteins.

Auffällig in Marie Madlen Webers Vorgehen ist das Gegenüberstellen von Gegensätzen wie schwer-leicht, hart-weich, kalt-warm, leer-voll. Für die Betrachter:innen entsteht auf diese Weise stets ein Überraschungsmoment. Nicht nur bei den Stein- sondern auch bei ihren Wachsarbeiten hebt die Künstlerin die Eigenheiten des Materials hervor und ergründet sie. Bei „7,14,21“ (2012) übernimmt das Material die Hauptrolle: Drei Tage in Folge sitzt Weber mehrere Stunden lang auf einem zwei Meter hohen Wachssockel. Durch ihre Körperwärme beginnt sich das Material zu verformen und langsam unter ihr zu schmelzen. Im Hervorquellen und in der Sanftheit zeigt sich ein starker Gegensatz zu ihren Steinarbeiten, in deren Entstehen die Langsamkeit der Materialveränderung jedoch ebenfalls deutlich wird. Die Künstlerin formt durch ihren Körper, wenn auch passiv, die massive Skulptur. Hinzu kommt, dass das Wachs, aus denen die orangen Postamente bestehen, zuvor schon in ihrer Installation „Raum orange“ (2009) zum Einsatz kam. Der begehbare Raum ist vollständig mit Wachs ausgekleidet. Im Laufe der Ausstellung lässt er sich durch das Betreten, Berühren und Modellieren der Besucher:innen verschiedenen Verwandlungen unterziehen. Auch hier spielt das Zusammenspiel von Körper und Material sowie das Formen durch langsam entstehende Wärme eine entscheidende Rolle. An dieser Stelle wird eine weitere Eigenschaft der Arbeiten deutlich: der Prozess.
Um die Relevanz des Prozesses genauer zu erläutern, eignet sich die Wachsarbeit „Anwesend/Abwesend“ (2013). Sechs Nächte lang schlief die Künstlerin auf einem matratzenähnlichen Wachsblock. Durch die Körperwärme der Künstlerin verformte sich das Material kaum merklich unter ihrem Gewicht. Die subtile Veränderung in einem Zustand der körperlichen Ruhe wurde erst am nächsten Morgen sichtbar. Tag für Tag und Nacht für Nacht wurden die Spuren deutlicher. Die enge Verbindung von Körper und Material ist eine emotionale und intensive Annäherung an die Bildhauerei.

Diese Prozessbezogenheit wird auch in „Mein Zimmer“ (2009-2011) deutlich: Peu à peu hat die Künstlerin alle Gegenstände ihres Zimmers zerlegt und abgeformt. In mehrstufiger Kleinarbeit hat sie sämtliche Textilien zerrissen und zermahlen. Mit dem daraus entstandenen Brei wurden alle Kleidungsstücke umformt, später selbst zerrieben und in Hüllen verwandelt. So hat Weber nach und nach alle Gegenstände erst umhüllt, dann zerkleinert und schließlich selbst zur Hülle gemacht. Auf diese Weise haben alle Gegenstände des Zimmers ihre ursprüngliche Materialität und Funktion verloren und sind nur noch Erinnerung an einen Raum voller Funktionen und Bedeutungen. Die Arbeit versinnbildlicht den ständigen Wandel, der in den Arbeiten immanent ist. Dementsprechend ist der bereits mehrere Jahre andauernde Prozess auch noch nicht vollendet: Durch das Verbrennen der Arbeit ist sie mittlerweile zu Staub geworden und wird in Zukunft abermals weiterverarbeitet werden. Webers Werke bauen aufeinander auf, beziehen sich aufeinander und scheinen, trotz stetiger Veränderung, zusammenhängende Bedeutung zu tragen.

Das Zerlegen und Zusammensetzen, Umfunktionieren und Neudeuten überträgt die Künstlerin auch auf ihre Steinarbeiten. Am deutlichsten wird die Transformation vielleicht in der Arbeit „Steinscheiben“ (2006), für die sie das Material in dünne Schichten schneidet als wäre es Schinken. Charakteristische Eigenschaften wie Schwere und Härte gehen dabei scheinbar verloren, die Steinscheiben erscheinen filigran und werden lichtdurchlässig. Das Innerste des Steins kann nun betrachtet werden und ursprünglich verborgene Zeichnungen und Texturen werden deutlich. Bei „Schicht für Schicht“ (2008-2009) bearbeitet Weber einen mit Patina überzogenen Marmorblock lediglich auf einer Seite. Sie zeichnet das natürliche Relief des Steins nach, löscht das Relief immer wieder aus und beginnt von Neuem. So nimmt das Volumen des Steins nach und nach ab, bis nur noch Staub übrig ist. Schon der Titel der mehrteiligen Arbeit „FormA-“ (2017-2021) impliziert eine Aufsplitterung. Die einzelnen Glieder sind variable Komponenten der „Heimatstück“-Arbeiten – spannende Materialmetamorphosen, die das Unmögliche möglich zu machen scheinen: Verschiedene Marmorelemente lösen die bestehende Vorstellung eines massiven Gesteins auf, wirken fluid, flexibel und nahezu schwerelos. Fließend passen sie sich ihrer Umgebung an als wollten sie dem harten Marmor eins auswischen. Auch hier legt die Künstlerin bewusst den Fokus auf die ständige Veränderung aller Dinge, das Auflösen des vermeintlich Gegebenen und das Umkehren des Starren oder Festen.

Über Jahre hinweg hat Marie Madlen Weber Verpackungen von Süßigkeiten gesammelt und für ihre Arbeit „umsorgt“ (2013-2020) zu einer Art Kokon zusammengeschmolzen. Am metallischen Äußeren ist die Materialität nicht ersichtlich, erst ein Blick in das bunte Innere der Schutzhülle offenbart den Ursprung der Kunststoffteile. Der Titel verweist auf die vermeintliche Schutzfunktion der Skulptur, die zumindest theoretisch einen Menschen umschließen und als provisorischer Schutz vor der Außenwelt dienen könnte. Gleichzeitig spielt der Name aber auch auf die beruhigende Funktion jener kleinen Snacks an, die uns durch den Tag tragen und seelisch zu umsorgen scheinen. Parallel zu „warm gehalten“ verweist „umsorgt“ aber auch auf die Hoffnungslosigkeit, die bereits im Arbeitsprozess mitschwingt. Nichts ist für immer.

Die jahrelange Arbeit an „umsorgt“ macht deutlich, dass sich Weber voll und ganz und ohne Eile ihren Werken widmet – ein Prozess, der mit großer Geduld, aber auch Entschleunigung und Ruhe einhergeht. Die sinnliche Erfahrung, die durch die häufig haptische Auseinandersetzung mit den berührungsintensiven Werken erfolgt, unterstreicht den fast meditativen Produktionszustand. Durch den körperlichen Kontakt werden inhaltlich emotionale Themen wie Geborgenheit, Berührung oder Schutz bekräftigt, was besonders in Arbeiten wie „Raum Orange“ oder „Anwesend/Abwesend“ deutlich wird.

Immer wieder gleicht Marie Madlen Webers Vorgehen einer explorativen Gratwanderung. Ihre Herangehensweise ist stets auch eine Grenzauslotung, ein neugieriges Abtasten des Möglichen. Die über einen langen Zeitraum entstehenden Arbeiten zeigen, dass der Prozess gleichzeitig ein Innehalten und eine Transformation bedeuten kann. Gegensätze, die sich einander annähern sowie der Kontakt von Positiv und Negativ, Körper und Material, natürlich und künstlich Erschaffenem ziehen sich wie eine rote Linie durch die Arbeiten der Künstlerin. Einer Gratwanderung ähnlich, bewegen sich dabei zwei vermeintlich gegensätzliche Positionen aufeinander zu. Ob nun in Form von körperlichen Abdrücken, künstlichen Hinterlassenschaften oder bleibenden Eingriffen in die Natur: Die Arbeiten unterstreichen den Zustand ewiger Veränderung – und lassen doch etwas zurück. Materielle und emotionale Spuren sind die Anhaltspunkte ihres vielschichtigen und arbeitsintensiven Schaffens.

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