Ein Text von Julia Meyer-Brehm
Um die Relevanz des Prozesses genauer zu erläutern, eignet sich die Wachsarbeit „Anwesend/Abwesend“ (2013). Sechs Nächte lang schlief die Künstlerin auf einem matratzenähnlichen Wachsblock. Durch die Körperwärme der Künstlerin verformte sich das Material kaum merklich unter ihrem Gewicht. Die subtile Veränderung in einem Zustand der körperlichen Ruhe wurde erst am nächsten Morgen sichtbar. Tag für Tag und Nacht für Nacht wurden die Spuren deutlicher. Die enge Verbindung von Körper und Material ist eine emotionale und intensive Annäherung an die Bildhauerei.
Diese Prozessbezogenheit wird auch in „Mein Zimmer“ (2009-2011) deutlich: Peu à peu hat die Künstlerin alle Gegenstände ihres Zimmers zerlegt und abgeformt. In mehrstufiger Kleinarbeit hat sie sämtliche Textilien zerrissen und zermahlen. Mit dem daraus entstandenen Brei wurden alle Kleidungsstücke umformt, später selbst zerrieben und in Hüllen verwandelt. So hat Weber nach und nach alle Gegenstände erst umhüllt, dann zerkleinert und schließlich selbst zur Hülle gemacht. Auf diese Weise haben alle Gegenstände des Zimmers ihre ursprüngliche Materialität und Funktion verloren und sind nur noch Erinnerung an einen Raum voller Funktionen und Bedeutungen. Die Arbeit versinnbildlicht den ständigen Wandel, der in den Arbeiten immanent ist. Dementsprechend ist der bereits mehrere Jahre andauernde Prozess auch noch nicht vollendet: Durch das Verbrennen der Arbeit ist sie mittlerweile zu Staub geworden und wird in Zukunft abermals weiterverarbeitet werden. Webers Werke bauen aufeinander auf, beziehen sich aufeinander und scheinen, trotz stetiger Veränderung, zusammenhängende Bedeutung zu tragen.
Das Zerlegen und Zusammensetzen, Umfunktionieren und Neudeuten überträgt die Künstlerin auch auf ihre Steinarbeiten. Am deutlichsten wird die Transformation vielleicht in der Arbeit „Steinscheiben“ (2006), für die sie das Material in dünne Schichten schneidet als wäre es Schinken. Charakteristische Eigenschaften wie Schwere und Härte gehen dabei scheinbar verloren, die Steinscheiben erscheinen filigran und werden lichtdurchlässig. Das Innerste des Steins kann nun betrachtet werden und ursprünglich verborgene Zeichnungen und Texturen werden deutlich. Bei „Schicht für Schicht“ (2008-2009) bearbeitet Weber einen mit Patina überzogenen Marmorblock lediglich auf einer Seite. Sie zeichnet das natürliche Relief des Steins nach, löscht das Relief immer wieder aus und beginnt von Neuem. So nimmt das Volumen des Steins nach und nach ab, bis nur noch Staub übrig ist. Schon der Titel der mehrteiligen Arbeit „FormA-“ (2017-2021) impliziert eine Aufsplitterung. Die einzelnen Glieder sind variable Komponenten der „Heimatstück“-Arbeiten – spannende Materialmetamorphosen, die das Unmögliche möglich zu machen scheinen: Verschiedene Marmorelemente lösen die bestehende Vorstellung eines massiven Gesteins auf, wirken fluid, flexibel und nahezu schwerelos. Fließend passen sie sich ihrer Umgebung an als wollten sie dem harten Marmor eins auswischen. Auch hier legt die Künstlerin bewusst den Fokus auf die ständige Veränderung aller Dinge, das Auflösen des vermeintlich Gegebenen und das Umkehren des Starren oder Festen.
Über Jahre hinweg hat Marie Madlen Weber Verpackungen von Süßigkeiten gesammelt und für ihre Arbeit „umsorgt“ (2013-2020) zu einer Art Kokon zusammengeschmolzen. Am metallischen Äußeren ist die Materialität nicht ersichtlich, erst ein Blick in das bunte Innere der Schutzhülle offenbart den Ursprung der Kunststoffteile. Der Titel verweist auf die vermeintliche Schutzfunktion der Skulptur, die zumindest theoretisch einen Menschen umschließen und als provisorischer Schutz vor der Außenwelt dienen könnte. Gleichzeitig spielt der Name aber auch auf die beruhigende Funktion jener kleinen Snacks an, die uns durch den Tag tragen und seelisch zu umsorgen scheinen. Parallel zu „warm gehalten“ verweist „umsorgt“ aber auch auf die Hoffnungslosigkeit, die bereits im Arbeitsprozess mitschwingt. Nichts ist für immer.
Die jahrelange Arbeit an „umsorgt“ macht deutlich, dass sich Weber voll und ganz und ohne Eile ihren Werken widmet – ein Prozess, der mit großer Geduld, aber auch Entschleunigung und Ruhe einhergeht. Die sinnliche Erfahrung, die durch die häufig haptische Auseinandersetzung mit den berührungsintensiven Werken erfolgt, unterstreicht den fast meditativen Produktionszustand. Durch den körperlichen Kontakt werden inhaltlich emotionale Themen wie Geborgenheit, Berührung oder Schutz bekräftigt, was besonders in Arbeiten wie „Raum Orange“ oder „Anwesend/Abwesend“ deutlich wird.
Immer wieder gleicht Marie Madlen Webers Vorgehen einer explorativen Gratwanderung. Ihre Herangehensweise ist stets auch eine Grenzauslotung, ein neugieriges Abtasten des Möglichen. Die über einen langen Zeitraum entstehenden Arbeiten zeigen, dass der Prozess gleichzeitig ein Innehalten und eine Transformation bedeuten kann. Gegensätze, die sich einander annähern sowie der Kontakt von Positiv und Negativ, Körper und Material, natürlich und künstlich Erschaffenem ziehen sich wie eine rote Linie durch die Arbeiten der Künstlerin. Einer Gratwanderung ähnlich, bewegen sich dabei zwei vermeintlich gegensätzliche Positionen aufeinander zu. Ob nun in Form von körperlichen Abdrücken, künstlichen Hinterlassenschaften oder bleibenden Eingriffen in die Natur: Die Arbeiten unterstreichen den Zustand ewiger Veränderung – und lassen doch etwas zurück. Materielle und emotionale Spuren sind die Anhaltspunkte ihres vielschichtigen und arbeitsintensiven Schaffens.